Hartmannswillerkopf – Anmerkungen von Martin Frech
Tobias D. Kern: Hartmannswillerkopf (2016–2018)
Vor gut 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg. Wir wurden 2018 regelmäßig daran erinnert. Ohne die durch diesen kalendarischen Anlass hervorgerufene mediale Aufmerksamkeit hätten sich wohl die wenigsten dieses langzeitige deutsche Trauma vergegenwärtigt; es liegt zu lange zurück. 2018 wurde zudem an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Auch dieser Krieg ist in unserem kollektiven deutschen Gedächtnis verblasst, trotz des Volkstrauertags. Ganz anders übrigens als bei unseren Nachbarn England und Frankreich, wo der ‚Great war‘ bzw. ‚La grande Guerre‘ präsenter sind. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat bei uns die an die vorherigen Kriege überlagert, auch wenn die Jahre von 1914 bis 1945 gelegentlich als der zweite Dreißigjährige Krieg bezeichnet werden.
Der Historiker Edwin Ernst Weber plante in seiner Funktion als Kulturreferent und Archivdirektor des Landkreises Sigmaringen eine Reihe von Ausstellungen, um in den Jahren 2014 bis 2018 an die Zeit des Ersten Weltkriegs zu erinnern. Zum Abschluss sollte 2018 eine Fotoausstellung an das Ende des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnern mit aktuellen Bildern des Hartmannsweilerkopfs(1), einer Bergkuppe in den Vogesen, aus französischer und deutscher Sicht. (2) Für Weber ist dieser Erinnerungsort des Ersten Weltkriegs (die Gedenkstätte am Hartmannsweilerkopf ist eines der vier französischen Nationaldenkmäler des Ersten Weltkriegs) eine „Chiffre für die Sinnlosigkeit der entgrenzten kriegerischen Gewalt zwischen Staaten und Völkern.“ (3)
Das Ausstellungsprojekt wurde als Beitrag zum Kulturaustausch zwischen dem Landkreis Sigmaringen und dem Gemeindeverband Thann-Cernay im französischen Département Haut-Rhin konzipiert. (4) Eingeladen wurden die französische Fotografin Nathalie Savey aus Straßburg (geb. 1964) und Tobias D. Kern aus Köln (geb. 1963), die Ausstellung gemeinsam zu gestalten. Dabei gab es keine formalen Vorgaben oder verbindliche Motiv-Wünsche: Die Fotokünstler waren frei, ihre Sicht auf die Dinge nach ihrem Gusto umzusetzen.
Wie in den meisten seiner freien Arbeiten hat Tobias D. Kern diese Serie schwarzweiß angelegt und in der Tradition seines Handwerks — von der Aufnahme der Negative bis zur Ausarbeitung der Vergrößerungen in der Dunkelkammer — emulsionsbasiert auf Film und kartonstarkes Baryt-Fotopapier gearbeitet.
Tobias D. Kern fotografiert selten einfach drauflos. Wenn er seine große Kamera ins Feld stellt, hat er das spätere Bild schon im Kopf. Der Übergang vom Negativ zum Positiv in der Dunkelkammer ist für ihn dann auch mehr als nur ein technischer Vorgang — Tobias D. Kern nutzt die kreativen Möglichkeiten der analogen Bildbearbeitung durch Abhalten und Nachbelichten während des Vergrößerns und das abschließende Tonen. Seine Fotografien benötigen jedoch keine Retuschen, Montagen oder was die Trickkiste noch so alles hergibt.
Tobias D. Kern, der den Hartmannsweilerkopf schon von früheren Besuchen kannte, begann das Projekt 2016 mit einer ersten Begehung des Geländes. Dabei fielen ihm ungewöhnlich geformte Bäume auf, bei denen mehrere Stämme aus einem Wurzelstock wachsen. Das Phänomen tritt dort nicht vereinzelt auf, wie wir das etwa von einem durch Blitzeinschlag verletzten Baum kennen. Viele Bäume auf dem Gelände präsentieren sich dergestalt. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Phänomen eine direkte Kriegsfolge ist: zeitgenössische Fotografien aus Kriegstagen zeigen weite Teile des Hartmannsweilerkopf übersät mit Baumstümpfen als Resultat des intensiven Beschusses. Aus vielen werden wohl wieder Äste getrieben sein, aus denen nun hundert Jahre alte — vom Krieg gezeichnete — Eichen, Eschen und Buchen geworden sind.
Bäume können im Vergleich zu uns Menschen sehr alt werden; die ältesten Exemplare Mitteleuropas haben bis zu 700 Jahre auf dem Buckel. Das mag der Grund dafür sein, dass Bäume als Symbole für Leben und Wachstum stehen, auch nach dem Tod — bereits in den Mythologien und Religionen (Yggdrasil, Buddhabaum, Baum der Erkenntnis), aber bis heute nachwirkend. Martin Luther, der vor dem Weltuntergang angeblich noch einen Apfelbaum gepflanzt hätte (5) oder der Herr von Ribbeck, der eine seiner Melanchthon-Birnen mit ins Grab nahm (aus der später ein neuer Baum spross), sind historische Beispiele ebenso wie die noch zahlreich vorhandenen Gedenk-Eichen. Der Brauch des Geburts- oder Lebensbaums ist vielerorts noch lebendig; auch Luther-Bäume werden wieder gepflanzt. (6)
Bäume — und im weiteren Sinne auch Wälder — spiegeln also Geschichte wider. Man muss die Zeichen allerdings lesen können; schließlich sind nicht überall entsprechende Infotafeln angebracht. Tobias D. Kern ist ein aufmerksamer Beobachter und gerne im Wald unterwegs; er hat einen Blick für Details. Das wissen wir spätestens, seit er 2012 seine Arbeit ‚Stigmata‘ über von Förstern gekennzeichnete Bäume vorgelegt hat.
So war für ihn schnell klar, dass er auf dem Hartmannsweilerkopf die kriegsversehrten Bäume fotografieren würde. Und zwar sowohl wegen ihrer symbolischen Zeugenschaft der Kriegstage, als auch dafür, dass sie eben diesen Krieg überlebten.
Kern hat die Bäume als Torsi aufgenommen, er zeigt sie mit dem sie umgebenden Waldboden und lenkt unseren Blick auf die ungewöhnlichen Stamm-Ausbildungen der Bäume. Dabei arbeitet er mit starken Kontrasten um die Bildwirkung zu unterstreichen. Sein Spiel mit Licht und Schatten — das Helle und das Dunkle — dürfen dabei gerne auch symbolisch gelesen werden.
Fotografie kann die Wirklichkeit nicht objektiv abbilden. Sie ist immer subjektiv. Das ist nach bald 200 Jahren Erfahrung mit diesem Medium Allgemeingut. Der Wechsel des Blicks von der Welt auf die davon angefertigten Bilder und wieder zurück auf die Welt, ändert sowohl die Wahrnehmung der Bilder als auch die der Welt. Der engagierte Dokumentarfotograf nutzt diese Wechselwirkung und macht Dinge sichtbar, indem er den für ihn wichtigen Ausschnitt der komplexen Welt auf ein Bild reduziert.
Für mich stehen die verunstalteten Bäume für die vielen ‚Kriegskrüppel‘, die zu Hunderttausenden von den Fronten des Ersten Weltkriegs zurückkehrten. Anders als in früheren Kriegen gab es damals zwar ein funktionierendes, militärisch organisiertes Sanitätswesen; viele der Soldaten überlebten daher ihre Verletzungen — allerdings häufig als Versehrte. Ein Heer von Amputierten, Blinden und Verunstalteten beherrschte noch lange nach dem Krieg das Straßenbild in den großen Städten, Tausende davon mit grob entstellten Gesichtern wie aus Horrorfilmen (Stahlhelme gab es ja erst seit 1916). Die frühen Arbeiterfotografen (beispielsweise Walter Ballhause) haben das dokumentiert und vor allem Ernst Friedrich mit seinem Buch „Krieg dem Kriege! Guerre à la Guerre! War against War! Oorlog aan den Oorlog!“ aus dem Jahr 1924, das bis heute immer wieder in Neuauflagen erschien, zuletzt 2015. (7) Das Thema ist nach wie vor aktuell — die Prothesen werden allerdings weiterentwickelt, wie uns beispielsweise Bryan Adams, durchaus in Friedrichs Tradition, mit seinen Portraits von verletzten Soldaten aus dem Irakkrieg zeigt. (8)
Von den 51 Bildern, die Tobias D. Kerns Serie umfasst, zeigen 22 Ansichten verkrüppelter Bäume; auf den anderen sind die Ruinen ausgewählter Stellungen und Bunkeranlagen auf der damals deutschen Seite der Kriegsfront abgebildet. Denn während die Franzosen ihre Seite der Front überwiegend mit Holz befestigten, haben die deutschen Soldaten in der Zeit ab 1914 unter gewaltigen Anstrengungen ihre Stellungen ‚für die Ewigkeit‘ ausgebaut: Sie haben bergmännisch Stollen in den Berg getrieben und große Mengen an Stahlbeton verbaut. Von den ehemaligen französischen Anlagen ist daher vergleichsweise wenig erhalten, wohingegen viele Ruinen der von den Deutschen gebauten Befestigungen auch ohne archäologische Methoden zugänglich sind.
Wobei ‚zugänglich‘ relativ ist — man darf sich das Umherstreifen auf dem knapp 1000 m hoch gelegenen Hartmannsweilerkopf nicht als Spaziergang vorstellen; eher als eine Wanderung im Mittelgebirge. Die meisten der Bunkeranlagen finden sich im Gelände abseits der befestigten Wege und sind nicht ausgeschildert; der Großteil der Bauten wird seit hundert Jahren weitgehend sich selbst und der Natur überlassen.
Tobias D. Kern stützte sich bei seiner Motivsuche auf die Expertise von Sigrid Schwamberger, die seit vielen Jahren ehrenamtlich an einer präzisen und detaillierten Karte des Gebiets arbeitet, die dereinst alle deutschen und französischen Anlagen des Ersten Weltkriegs verzeichnen soll. (9) Ohne Sigrid Schwambergers Vor- und Mitarbeit hätte Tobias D. Kern nicht so effektiv arbeiten können; auch würde seine Fotoserie deutlich anders aussehen, hat sie ihn doch auf viele Motive erst aufmerksam gemacht.
Tobias D. Kern ist gelernter Architekturfotograf und beschäftigt sich bei seinen angewandten Arbeiten viel mit der Dokumentation von Räumen. Das Hartmannsweilerkopf-Projekt ist davon sicher beeinflusst. Dennoch ist diese Arbeit keine sachliche Bunker-Dokumentation. Wie bei den verletzten Bäumen, arbeitet Kern auch hier mit starken Kontrasten, mit hellen und dunklen Bildbereichen, in manchen Bildern gar mit rein schwarzen Flächen. Deutlich zeigen sich Einflüsse des Fotografen Robert Häussers (1924–2013), der von Kern auch klar als Vorbild benannt wird.
Die Realität der Bunkeranlagen ist das eine; Kerns Transformationen des Vorgefundenen in Schwarzweißbilder das andere. Vordergründig sehen wir Bunker-Reste; Ansichten von außen: Fassaden, Mauern — aber auch Blicke aus dem dunklen Inneren der Gebäude nach draußen. Immer mit deutlich gesetzten Akzenten hinsichtlich der Hell-Dunkel-Kontraste. Dennoch sind Kerns Bilder offen gestaltet und verweigern eine eindeutige Aussage. Lassen wir uns ein auf ein intensives Betrachten, wirken sie auf jeden Fall Fantasie anregend. Kennen wir dazu auch nur ein wenig die Geschichte der Stellungskämpfe im Ersten Weltkrieg, aktivieren die Bilder durchaus Vorstellungen vom Irrsinn des Krieges. Andererseits wirken manche Bilder sehr romantisch und erinnern mich an Stiche von Giovanni Battista Piranesi (1720–1778), der seine monochromen Ansichten überwucherter klassischer Ruinen auch gerne mit kräftigen Schatten und feinen Tonabstufungen inszenierte.
Hier kommt eine weitere Dimension des Ausstellungsprojekts ins Spiel, die an der pazifistischen Intention des Bildautors wenig Zweifel lässt. Tobias D. Kern kombiniert seine Fotografien mit ausgewählten Kriegsgedichten von August Stramm (1874–1915). In grauer Schrift auf mattschwarzen Tafeln hängen die expressionistischen Gedichte des Weltkriegs-Soldaten Stramm zwischen den Fotos. August Stramm schrieb über Erlebtes, er kämpfte im Stellungskrieg an der Somme und fiel bereits 1915 an der Ostfront. Seine Kriegslyrik erschien schon 1915 in der Zeitschrift ‚Der Sturm‘ sowie später in einer Nachlassausgabe unter dem Titel ‚Tropfblut‘.
Die Steine feinden // Fenster grinst Verrat // Äste würgen // Berge Sträucher blättern raschlig // Gellen // Tod. (August Stramm, Patrouille) (10)
Stramms Gedichte sind nicht unmittelbar zugänglich wie etwa das ebenfalls 1915 entstandene ‚In Flanders Fields‘ (In Flanders fields the poppies blow …) des Kanadiers John McCrae (1872–1918), eines der bekanntesten Gedichte über den ersten Weltkrieg. Insofern passen Stramms Zeilen gut zu Kerns Bildern. Harte Sprache, keine schönen Reime; sowohl die expressionistische Lyrik als auch die Schwarzweißfotografie neigen zu Abstraktionen; Stramm zerstört Syntax und Grammatik, die Bilder zeigen Zerstörtes; Stramm reduziert seine intensive Sprache auf ein Minimum, auf die Funktion, die Bilder verzichten auf Farbe und zeigen Reste funktionaler Architektur. Stramms Gedichte stellen ebensowenig den Krieg dar wie das Kerns Bilder tun: beide stehen eher für die Sinnlosigkeit desselben.
Ein kompletter Satz Originalabzüge der Serie ‚Hartmannsweilerkopf‘ wurde in die Sammlung des Abri mémoire in Uffholtz (F) übernommen. Tobias D. Kerns Arbeit ist so neben der Katalogveröffentlichung (11) im Original institutionell gesichert und öffentlich zugänglich. Sie ist damit ein substanzieller Beitrag zur Erinnerung an den ersten Weltkrieg.
Martin Frech
(1) Hartmannswillerkopf ist die Elsässische Bezeichnung, auf Französisch heißt der Berg Vieil Armand, der ursprünglich deutsche Name ist Hartmannsweiler Kopf.
(2) Sigmaringen unterhält freundschaftliche Beziehungen zur französischen Stadt Thann (im Département Haut-Rhin), in welcher der Hartmannsweilerkopf liegt.
(3) Edwin Ernst Weber: Kriegsnarben und Wandlungen am Hartmannsweilerkopf. In: Wandlungen. Deutsch-französische Erkundungen auf dem Hartmannsweilerkopf. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 7. Oktober 2018 in der Kreisgalerie Schloss Meßkirch. Fotografien: Tobias Kern und Nathalie Savey. Herausgegeben von Edwin Ernst Weber. S. 18.
(4) Ausstellungen: Wandlungen — Mutations. 08.07. bis 07.10.2018. Kreisgalerie Schloss Meßkirch sowie Mutations — Wandlungen. Regards croisés franco-allemand au Hartmannsweilerkopf. 20.10.2018 bis 28.02.2019. Abri mémoire (Uffholtz, F) und danach im Historial franco-allemand due Hartmannsweilerkopf (F)
(5) Allerdings stammt der Spruch laut Martin Schloemann wohl erst aus den 1930er-Jahren: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/stammt-der-spruch-ueber-den-apfelbaum-gar-nicht-von-luther-14967938.html [2018-09-14]
(6) http://www.lutherbaum.de/ [2018-09-14]
(7) Ernst Friedrich: Krieg dem Kriege. Neu herausgegeben vom Anti-Kriegs-Museum Berlin. Mit einer Einführung von Gerd Krumeich. Berlin: 2015.
(8) Bryan Adams: Wounded. The Legacy of War. Göttingen: Steidl, 2013.
(9) La carte Schwamberger / Die Schwamberger Karte. Maßstab 1: 2000. Abri-mémoire, Uffholtz, 2014.
(10) Das ist eines von Stramms bekanntesten Gedichten; vgl. z.B. http://gutenberg.spiegel.de/buch/august-stramm-gedichte-152/51 [2018-09-21]
(11) Tobias D. Kern: Hartmannswillerkopf Nr. 01–51. In: Wandlungen. Deutsch-französische Erkundungen auf dem Hartmannsweilerkopf. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli bis 7. Oktober 2018 in der Kreisgalerie Schloss Meßkirch. Fotografien: Tobias Kern und Nathalie Savey. Herausgegeben von Edwin Ernst Weber. S. 56–113.